Mikrobiom: Mann und Frau unterscheiden sich
- Lilian Schoefer
- 25. Mai 2023
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juli 2023
Die Mikroorganismen in unserem Darm beeinflussen die Gesundheit stark. Forschende der San Diego State University und der University of California in den USA haben jetzt auf einen noch kaum beachteten Aspekt hingewiesen: Das Darm-Mikrobiom von Mann und Frau unterscheidet sich – mit weitreichenden Folgen. [1] Denn während sich die Darm-Mikrobiome von Jungen und Mädchen in der Pubertät auseinander entwickeln, wirken die Veränderungen auf die Reifung der Jugendlichen zurück. Auch ob sie erkranken und wie sie auf Medikamente ansprechen, kann auf geschlechtsspezifische Unterschiede der Darmflora zurückgehen.
Jeder Mensch kommt während der Geburt zum ersten Mal mit Bakterien und anderen Mikroorganismen in Kontakt – über den Vaginaltrakt der Mutter bei einer natürlichen Geburt und über die direkte Geburtsumgebung. Danach nimmt die Vielfalt des kindlichen Mikrobioms schnell zu und im Alter von zwei bis drei Jahren ähneln seine Zusammensetzung und seine Stoffwechselaktivität bereits der eines Erwachsenen.

Für die Wissenschaft lag deshalb zunächst die Schlussfolgerung nahe: Das Darm-Mikrobiom ist bei dreijährigen Kindern bereits voll ausgereift, entwicklungsbedingte Veränderungen finden danach nicht mehr statt. Doch neuere Forschungsergebnisse zeichnen ein anderes Bild.
Darm-Mikrobiom reift in der Pubertät

Wie eine Studie mit zweieiigen, getrenntgeschlechtlichen Zwillingen zeigte, entwickeln sich die Darm-Mikrobiome von Junge und Mädchen eines Zwillingspaars in der Pubertät auseinander. Im Säuglingsalter unterscheiden sich die Kinder dagegen nicht hinsichtlich der Vielfalt ihrer Darmbakterien.
Das gleiche Muster ließ sich generell im Mikrobiom von Jungen und Mädchen vor und während der Pubertät beobachten, aber da Zwillingspaare meist unter den gleichen Bedingungen aufwachsen, ist das Ergebnis bei ihnen besonders aussagekräftig.
Die Vielfalt der Darmbakterien zwischen Junge und Mädchen unterschied sich umso stärker, je weiter die Pubertät fortgeschritten war und stabilisierte sich schließlich in einem Bereich, der nach heutigen Erkenntnissen für erwachsene Männer oder Frauen typisch ist. Welche Bakterienarten oder -gattungen bei welchem Geschlecht jeweils häufiger vorkommen, müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler allerdings noch in weiteren Studien klären.
Unterschied im Mikrobiom zunächst verborgen
Im Jahr 2007 starteten die National Institutes of Health der USA eine groß angelegte Initiative, die die Mikrobiomforschung stark vorantrieb: das Human Microbiome Project. Die Forschungsinitiative verbesserte das Verständnis, wie die Darmflora zusammengesetzt ist und welche Rolle sie für Gesundheit und Krankheit spielt. Doch frühe Daten aus dem Human Microbiome Project gaben die geschlechtsspezifischen Abweichungen im Darm-Mikrobiom zunächst nicht preiß.
Spätere Studien identifizierten dagegen durchweg Unterschiede in der Vielfalt des Mikrobioms zwischen den Geschlechtern.
Das Geschlecht zählt heute sogar zu den Faktoren, die besonders stark auf die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms einwirken. Weitere Faktoren sind Alter, Genetik, geografische Lage, Art der Geburt, Ernährung in der frühen Kindheit, Medikamenteneinnahme und Ernährungsstil [2].
Einfluss auf Reifung und Gesundheit
Doch nicht nur wirkt sich die Pubertät auf die Diversität des Darm-Mikrobioms aus, die geschlechsspezifischen Veränderungen im Mikrobiom wirken wiederum auf die Reifung der Jugendlichen zurück.

Betroffen sind zum Beispiel die Bereiche:
Kognition und Angst
Leberstoffwechsel und
Immunität.
Das Darm-Mikrobiom beeinflusst außerdem, wie regelmäßig die Menstruation einsetzt.
Ob bestimmte Erkrankungen während oder nach der Pubertät auftreten, kann ebenfalls auf die Darmflora und ihre geschlechtsspezifischen Unterschiede zurückgehen. Zu den Krankheiten gehören:
chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
Typ-1-Diabetes
Lupus
Adipositas
polyzystisches Ovarialsyndrom und
Endometriose.
Mikrobiom in Therapie einbeziehen
Auch die Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie hängt oft von der Zusammensetzung der Darmflora ab. Denn die Darmbakterien können Medikamente verstoffwechseln und damit ihre Wirkung verändern, aufheben oder sogar erst aktivieren. Patientinnen und Patienten können deshalb unterschiedlich auf Medikamente ansprechen, je nachdem wie die Darm-Mikrobiota zusammengesetzt ist. In der Medizin findet noch zu wenig Beachtung, welche Rolle die Mikroorganismen im Verdauungstrakt für die Wirkung von Arzneimitteln spielen.
Ein Beispiel ist L‑Dopa, das Standardtherapeutikum bei Parkinson. L-Dopa gelangt aus dem Darm über das Blut ins Gehirn und wird dort zu Dopamin abgebaut. Besiedelt aber das Bakterium Helicobacter pylori den Magen, verstoffwechselt es den Wirkstoff und die Bioverfügbarkeit des Arzneimittels sinkt.
Wird Helicobacter pylori mit Hilfe von Antibiotika beseitigt, ist L‑Dopa in einer geringeren Dosierung wirksam [3].
Sexualhormone wirken auf Mikroorganismen ein
Doch wie kommt es zu den Unterschieden zwischen dem weiblichen und dem männlichen Darm-Mikrobiom? Naheliegend ist der Gedanke: Die Sexualhormone tragen direkt zu den Veränderungen im Mikrobiom während der Pubertät bei - und so scheint es auch zu sein.
Östrogen und Testosteron sorgen nicht nur für die Ausbildung der Geschlechtsorgane und sekundären Geschlechtsmerkmale, sie wirken auch auf die Vielfalt des Mikrobioms und die Funktion des Darms ein.
Nahmen Frauen in einer Studie östrogen- und progesteronhaltige Verhütungsmittel ein, veränderten sich Vielfalt und Stoffwechselaktivität der Darmflora. Eine weitere Studie fand signifikante Unterschiede im Mikrobiom zwischen Frauen vor und nach der Menopause. Nahmen die Frauen nach der Menopause Hormonersatzpräparate ein, glich sich ihr Mikrobiom wieder der Vielfalt vor der Menopause an.

Bei Mäusen: Nach Kastration gehen Unterschiede zurück

Um die Beobachtungen weiter zu überprüfen, kastrierten Forschende männliche und weibliche Mäuse und untersuchten daraufhin ihre Darm-Mikrobiota.
Das Ergebnis: Die Unterschiede in der Darm-Mikrobiota verringerten sich nach der Kastration zwischen den Geschlechtern. Behandelten die Forschenden die kastrierten Weibchen mit Östradiol und die kastrierten Männchen mit Dihydrotestosteron, glich sich die Vielfalt des Darm-Mikrobioms wieder dem an, was jeweils für fruchtbare Weibchen oder Männchen typisch ist. Die Veränderungen der Darm-Mikrobiota gingen also tatsächlich auf die (fehlenden) Sexualhormone zurück und nicht auf andere Effekte der Kastration.
Auch Immunsystem ist geschlechtsspezifisch
Auch das Immunsystem verändert sich während der Pubertät geschlechtsspezifisch und die Unterschiede bleiben im Erwachsenenalter erhalten.
Covid-19 verdeutlichte die Unterschiede in Zahlen: In China starben bis Februar 2020 fast doppelt so viele Männer wie Frauen an der Infektion (4,7% zu 2,8% der Erkrankten).[4]
Die Wahrscheinlichkeit, an Tuberkulose zu erkranken, ist bei Männern ebenfalls fast doppelt so hoch [5].
Wie bei der Vielfalt der Mikrobiota spielen die Sexualhormone für die Funktionalität des Immunsystems eine direkte Rolle: Während Östrogen das Immunsystems auf breiter Basis stimuliert, schwächt Testosteron seine Wirkung ab. Und es gibt noch weitere Ursachen für die Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Viele am Immunsystem beteiligte Gene befinden sich auf dem X-Chromosom, von dem Frauen in der Regel zwei besitzen und Männer nur eines. Das Immunsystem der Frauen kann deshalb auf zwei Varianten eines Immun-Gens zurückgreifen, um Infektionen zu bekämpfen.
Gleichzeitig werden Frauen dadurch anfälliger für Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose und rheumatoide Arthritis, bei denen der Körper seine eigenen Zellen angreift.
Immunsystem fördert geschlechtsspezifisches Mikrobiom
Da das Immunsystem die Zusammensetzung des Darm-Mikrobiom lenkt, kann ein geschlechtsspezifisches Immunsystem ein geschlechtsspezifisches Darm-Mikrobiom erzeugen. Dafür nutzt das Immunsystem antimikrobielle Stoffe, die es in den Darm ausscheidet, und lässt Immunzellen das Darm-Mikrobiom überwachen. Bei Bedarf können sie mit Hilfe von Antikörpern die Zusammensetzung verändern.
Wie eng geschlechtsspezifische Unterschiede im Immunsystem und Darm-Mikrobiom mit der geschlechtsspezifischen Inzidenz von Erkrankungen verwoben sein kann, zeigen die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn.
Colitis ulcerosa tritt häufiger bei Frauen auf, während Morbus Crohn häufiger bei Männern vorkommt.
Das Darmmikrobiom bestimmt maßgeblich mit, ob eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung ausbricht und wie schwer sie verläuft. Verantwortlich für die Symptome der Erkrankung ist wiederum ein entgleistes Immunsystem.
Typ-1-Diabetes: Männliche Geschlechtshormone schützen Mäuse
Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Immunsystem-Mikrobiom-Achse zeigte sich bei Mäusen, die eine genetische Anfälligkeit für Typ-1-Diabetes besitzen. Bei den Mäusen erkranken im Alter von 30 Wochen etwa 80 Prozent der Weibchen und 20 Prozent der Männchen an Typ-1-Diabetes.
Wurden die Männchen in einer Studie kastriert, erkrankten sie ähnlich häufig als die Weibchen. Demnach können die männlichen Geschlechtshormone möglicherweise den Ausbruch von Typ-1-Diabetes verhindern.
Doch selbst wenn Forschende nur die Darmflora der Männchen auf die Weibchen übertrugen, waren die Weibchen vor Typ-1-Diabetes geschützt.
Das Mikrobiom ist offensichtlich ein wichtiges Bindeglied zwischen geschlechtsspezifischer Immunfunktion und dem Ausbruch von Typ-1-Diabetes. Ein weiteres Indiz dafür: Die männlichen und weiblichen Mäuse unterschieden sich nicht in der Erkrankungshäufigkeit, wenn sie in einer keimfreien Umgebung aufwuchsen.
Fazit
Die Darm-Mikrobiome von Frauen und Männern unterscheiden sich nachweislich in ihrer Vielfalt. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede beeinflussen die Reifung während der Pubertät, die Entstehung von Erkrankungen und die Wirksamkeit von Medikamenten.
Der weitreichende Einfluss des Darm-Mikrobioms zeigt, wie wichtig es ist, die Unterschiede im Mikrobiom zwischen Frauen und Männern im Detail zu kennen. Erst dann werden eine gezielte Prävention und eine wirksame Therapie von Mikrobiom-bedingten Reifedefiziten und Erkrankungen möglich.
Mit meinem Blog möchte ich die personalisierte Medizin unterstützen. Da die physiologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen und das Mikrobiom dabei eine wichtige Rolle spielen, werde ich regelmäßig aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse dazu vorstellen. Bleiben Sie dran!
Literatur
Sisk-Hackworth L. et al., 2023: Sex, puberty, and the gut microbiome. Reproduction 165(2): R61-R74. doi: 10.1530/REP-22-0303.
Yang Q. et al., 2020: Role of Dietary Nutrients in the Modulation of Gut Microbiota: A Narrative Review. Nutrients 12(2): 381. doi: 10.3390/nu12020381.
Carmody R.N., Turnbaugh P.J., 2014: Host-microbial interactions in the metabolism of therapeutic and diet-derived xenobiotics. J Clin Invest. 124(10): 4173-81. doi: 10.1172/JCI72335.
Wilson C., 2023: Are there sex differences in the immune system? New Sci. 257(3424): 40. doi: 10.1016/S0262-4079(23)00214-2.
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