Immunsystem: Warum Frauen und Männer anders krank werden
- Lilian Schoefer
- 30. Juni 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Juli 2023
Ob es zu einer Erkrankung kommt, wie sie verläuft und welche Therapie wirkt, hängt oft vom Immunsystem ab – und das unterscheidet sich zwischen Frauen und Männern. Spielt das Immunsystem bei einer Erkrankung eine zentrale Rolle, ist es bei der Behandlung besonders wichtig, die geschlechtsspezifischen Unterschiede zu berücksichtigen. Infektionskrankheiten und neurodegenerative Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Parkinson und Alzheimer könnten so früher erkannt, effizienter behandelt und in manchen Fällen komplett verhindert werden.
Erst seit wenigen Jahren entwickelt sich ein Bewusstsein dafür, wie stark das Geschlecht beeinflussen kann, ob wir krank werden und wie schwer die Erkrankung verläuft. Die Gendermedizin beschäftigt sich mit diesem Einfluss, aber noch 2016 befand sie sich in einer kaum beachteten Nische. Zwar war bereits bekannt: Männer sind anfälliger für Infektionen und Frauen erkranken häufiger an Alzheimer – doch viele Forschende hielten solche Befunde nicht für relevant. [1]
Folglich fokussierten Studien zur Entwicklung von Medikamenten selten auf das Geschlecht und seine Auswirkungen auf das Krankheitsgeschehen. Auch präklinische Studien beachteten kaum, ob es sich bei den untersuchten Tieren um Männchen oder Weibchen handelte.
Forschende sahen den weiblichen Zyklus lediglich als störend an, wenn die Hormon-Schwankungen die Analyse verkomplizierten. Sie schlossen deshalb weibliche Tiere zum Teil von präklinischen Studien aus.
Immer häufiger kristallisieren sich jedoch Unterschiede in den Stoffwechselprozessen und Arzneimittelwirkungen zwischen Frauen und Männern heraus. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Geschlecht als bestimmend für die Gesundheit anerkannt. Geschlechtsunterschiede – von der Genetik bis hin zu Hormonen – können Krankheitsmechanismen, Immunfunktionen und Arzneimittelwirkungen tiefgreifend beeinflussen.

Genetik macht weibliches Immunsystem leistungsfähiger
Eine unterschiedliche Leistungsfähigkeit des Immunsystems von Männern und Frauen ist bereits im Erbmaterial festgeschrieben. Im Kern jeder Körperzelle befindet sich das Erbmaterial – die DNA – komprimiert in Chromosomen. Auf der DNA liegen Gene, die Baupläne für sämtliche Zellbestandteile liefern.

Die Gene auf den X- und Y-Chromosomen sind für die Ausprägung der Geschlechtsmerkmale verantwortlich – aber nicht nur: Auf ihnen liegen auch Gene, die Immunfunktionen regulieren. Mit zwei X-Chromosomen besitzen Frauen zwei Varianten dieser Gene, eine davon ist in jeder Zelle nach dem Zufallsprinzip ausgeschaltet. [2] Bei Frauen entsteht dadurch ein Zellmosaik aus verschiedenen Gen-Varianten im Gewebe. Diese größere genetische Vielfalt verhilft den Frauen zu einer stärkeren immunologischen Schlagkraft: Sie können Herausforderungen wie eindringenden Krankheitserregern effizienter begegnen und angeborene Immundefekte treten seltener auf. Denn kommt es zu einer Mutation in einem der Gene, kann das Gen des jeweils anderen Chromosoms einspringen. Insgesamt ist die Immunantwort bei Frauen deshalb stärker ausgeprägt als bei Männern. Frauen wehren Krankheitserreger effektiver ab und sprechen besser auf Impfungen an.
Autoimmunerkrankungen: die Kehrseite hoher Immunaktivität
Da die Stummschaltung einer Genvariante nur teilweise funktioniert, bleibt außerdem bis zu ein Drittel der Gene in beiden Varianten aktiv. Dadurch produziert der Körper mehr von der entsprechenden Komponente des Immunsystems. Durch die Überaktivität wendet sich das weibliche Immunsystem öfter gegen körpereigene Strukturen und kann damit Autoimmunerkrankungen wie die Zöliakie auslösen. Auch neurodegenerative Erkrankungen wie die Multiple Sklerose und Morbus Alzheimer besitzen eine autoimmune Komponente und treten häufiger bei Frauen auf. [3] Das Immunsystem greift dabei gesunde Nervenzellen und Gewebe an, entzündet und schädigt sie. Das kann das Gehirn, das Rückenmark und die Nerven im ganzen Körper betreffen.

Y-Chromosom macht anfälliger für Infektionen

Männer verfügen dagegen nur über eine Variante der X-Chromosom-Gene. Zwar enthält das Y-Chromosom auch Gene, die das Immunsystem betreffen - aber es sind deutlich weniger, da das Y-Chromosom stark verkürzt ist. Kommt es bei Männern zu Mutationen auf dem X-Chromosom, kann der genetische Fehler nicht ausgeglichen werden und es entstehen schnell angeborene Immundefekte. Sie machen die betroffenen Männer anfällig für wiederkehrende Bakterien-, Pilz- und Virusinfektionen. Gleichzeitig kann das männliche Immunsystem Krankheitserreger weniger gut erkennen, da es weniger Sensoren dafür besitzt. [2]
Sexualhormone beeinflussen Immunsystem
Neben den Genen beeinflussen auch die Sexualhormone das Immunsystem. Beide Geschlechter besitzen zwar sowohl männliche als auch weibliche Sexualhormone, ihre Konzentrationen unterscheiden sich jedoch grundlegend zwischen Frauen und Männern. Zusätzlich steigen und fallen die Spiegel der Sexualhormone im Laufe des Lebens, weshalb die Leistungsfähigkeit des Immunsystem auch vom Alter abhängt. [2]
Während das männliche Sexualhormon Testosteron Immunantworten generell unterdrückt, wirkt das weibliche Hormon Östradiol dosisabhängig: In niedriger Konzentration fördert es eine allgemeine Immunantwort, die Entzündungen befeuert. In hoher Konzentration bekämpft es Krankheitserreger dagegen effizient und spezifisch, ohne eine Entzündung auszulösen.
Infektionen: Männer insgesamt gefährdeter
Männer können Krankheitserreger also nicht nur schlechter erkennen und bekämpfen, die Infektionen verlaufen auch oft schwerer, weil das männliche Immunsystem stärker zu Entzündungen neigt. Deutlich wurde der Unterschied während der ersten Phase der Corona-Pandemie: Männer erkrankten damals öfter und waren häufiger vom gefürchteten Immunsturm betroffen. Dabei geraten die entzündlichen Reaktionen außer Kontrolle – im Extremfall sterben die Patienten daran.

Viele Infektionskrankheiten kommen aber auch deshalb häufiger bei Männern vor, weil sie Infektionsrisiken und empfohlene Hygienemaßnahmen weniger ernstnehmen. Für die Medizin bedeutet das: Speziell auf Männer ausgerichtete Präventionskampagnen könnten helfen, Infektionen von vorneherein zu vermeiden.
Darüber hinaus wären medizinische Leitlinien hilfreich, die die Unterschiede zwischen den männlichen und weiblichen Immunsystemen berücksichtigen. Damit wären gezieltere und effizientere Therapien möglich.
Alzheimer: Früherkennung bei Frauen ausbauen
Frauen können dagegen von einer geschlechtsspezifischen Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen profitieren. Denn obwohl Alzheimer zum Beispiel öfter bei Frauen vorkommt, wird die Erkrankung bei ihnen häufiger im Frühstadium übersehen. [1] Frauen besitzen in der Regel ein besseres verbales Gedächtnis, weshalb die neuropsychologischen Standardtests zu einfach sind, um den Beginn der Erkrankung aufzudecken. Für die nur leicht beeinträchtigen Frauen ist das fatal, denn sie würden bei einer korrekten Diagnose und anschließender Therapie doppelt so schnell Fortschritte erzielen wie Männer.

Frauen und Männer unterscheiden sich außerdem bei den Faktoren, die Alzheimer auslösen können. Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen spielen zum Beispiel bei Frauen auch in Bezug auf Alzheimer eine größere Rolle. Darüber hinaus schlagen die Therapien zum Teil unterschiedlich bei Frauen und Männern an.
Fazit
Ein geschlechtsspezifischer Blick auf Patientinnen und Patienten kann die medizinische Versorgung noch einmal deutlich verbessern - und das ohne teure Diagnostiken und extravagante Therapien. Zukünftige Studien sollten deshalb generell die krankheitsspezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen im Blick haben, um die noch großen Wissenslücken im Bereich der Gendermedizin zu schließen.
Literatur
Castro-Aldrete L. et al., 2023: Sex and gender considerations in Alzheimer's disease: The Women's Brain Project contribution. Front Aging Neurosci. 15:1105620. doi: 10.3389/fnagi.2023.1105620.
Dias, S. P. et al., 2022: Sex and Gender Differences in Bacterial Infections. Infect Immun. 90(10): e0028322. doi: 10.1128/iai.00283-22.
Khan, A. W. et al., 2023: Autoimmune Neuroinflammatory Diseases: Role of Interleukins. Int J Mol Sci. 24(9): 7960. doi: 10.3390/ijms24097960.
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